Waschbärdompteur

Mai
12

Grenzlinien

Borderline ist im Grunde eine durch und durch faszinierende Sache. Natürlich nicht für die Betroffenen. Aber von dem her, was im Betroffenen vorgeht, was mit seinen Angehörigen passiert und wie sich das alles auf die Familiendynamik auswirkt, schon.

Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung. Borderliner fühlen im Grunde dasselbe, wie “normale” Menschen, können aber ihre Gefühle nicht zuordnen und reagieren für Dritte irrational. Es gibt verschiedene Formen. Manche suchen offensiv Liebe, andere werden körperlich gewalttätig, manche verletzen mit Worten, wieder andere verletzten sich selbst. Sie alle suchen im Grunde nach Halt und Liebe. Leider ist ihre “Störung” dadurch gekennzeichnet, dass von ihrem – für sie wichtigen – Gegenüber keine konstante Vorstellung haben. Heißt, sie wechseln wild zwischen abgöttischer Liebe und abgrundtiefem Hass.

Ein Borderliner hat panische Angst vor dem Verlassenwerden. Ihre Mitmenschen gelangen sehr leicht in einen Teufelskreis aus Helfenwollen, Versagen und letztendlich in der fatalen Erkenntnis, dass nicht der Borderliner ein Problem hat, sondern der Dritte.

Wenn ein Betroffener einsieht, dass irgend etwas mit ihm nicht stimmt, ist wird es schwierig, weil sich die Forschung um diese “Krankheit” jahrelang nicht gekümmert hat und eben deshalb Therapien schwierig sind. Aber es ist nicht unmöglich.

Meine Familie ist seit Jahrzehnten ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn jegliche Einsicht fehlt. Schon meine Urgroßmutter muss wohl Betroffene gewesen sein, ich weiß aber nicht mehr, als dass ihre fünf Kinder Anfang des 20. Jahrhunderts von fünf Männern waren. Meine Oma ist das “Vorzeigeexemplar” eines Borderliners wie aus dem Lehrbuch. Meine Mutter und ihre Schwester wuchsen mit Hass, Kälte und vor allem körperlichen Misshandlungen auf. Sie gaben sich – wie das jedes Kind tut – selbst die Schuld und daraus wuchs – ebenfalls klassisch – auch bei ihnen diese “Störung”.

Meine Cousine, ihr Bruder und ich sind sozusagen die Summe des ICD-10. Die beiden, weil ihre Mutter die beiden vernachlässigte, um mit hohem Männerverschleiß doch noch Sicherheit zu finden. Ich, weil ich geboren wurde, um meine Mutter endlich zu “heilen” und dabei versagte.

Interessant ist auch, welche Männer mit meinen weiblichen Verwandten Familien gründeten. Nazis, Pädophile, Psychotiker, Depressive und vor allem Alkoholiker.

Seit Jahrzehnten ist dieses verrottete, kaputte, absolut instabile Konstrukt nach Außen völlig normal. Jeder hält sich an ein ungeschriebenes Drehbuch und “spielt” die perfekte, “normale” Familie mit einer Perfektion, die im Laufe der Jahre ein starres Korsett geformt hat. Dass keinerlei Kontakt “nach Außen” besteht, ist hier natürlich Voraussetzung. Es gibt keine befreundete Familien oder weiter entfernt Verwandte, mit denen man sich trifft. Unter der Oberfläche spürt jeder, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Aber im Laufe der Kindheit verschwindet dieses Gefühl. Man akzeptiert, dass man selbst gestört ist. In der Pubertät will man ausbrechen. Nicht aus der Familie, sondern aus der eigenen Unzulänglichkeit und aus dem verstörenden Gefühl, das sich entwickelt, wenn man für die eigenen Eltern eine Enttäuschung und der Grund allen ihren Übels ist, ohne dass man sich eigentlich einer Schuld – außer der eigenen Persönlichkeit – bewusst ist.

All das ist nicht Beweis dafür, dass mit den eigenen Eltern irgend etwas nicht stimmt. Eltern lieben ihre Kinder und sorgen für sie. Eltern wissen, was gut für ihre Kinder ist. Eltern machen keine Fehler. Wenn man nun also ein Kind ist, dass eine Enttäuschung für die eigenen Eltern ist, will man das permanent wieder gut machen. Irgend etwas kann man tun, damit einen die eigenen Eltern endlich lieben und respektieren.

Ausnahmslos alle Familienmitglieder des engeren Kreises haben diese Verwirrung irgendwann ganz fest weiß Gott wo im Bewusstsein eingesperrt, sich ans Drehbuch gehalten und eine Familie gegründet. Wo sich alles wiederholt hat.

Bizarr ist, dass mir erst in den letzten ein, zwei Jahren immer mehr klar wurde und wird, wie abartig und krank meine Familie ist. Ich meine das in der Tat nicht vorwurfsvoll oder gar wütend. Meine Mutter beispielsweise wohnt immer noch im selben Haus wie ihre Mutter. Nur kommunizieren die beiden – wenn überhaupt – nur noch über den Anwalt. Ich fand das nie unnormal. Es ist einerseits erschreckend, aber auch sehr faszinierend, dass ich meine Familie immer für absolut normal gehalten habe. Es gab nie auch nur im Ansatz den Gedanken, dass irgend etwas mit meiner Familie nicht stimmen könnte.

Ich war einfach zu schwach, um dieses Spiel mitzuspielen. Erst Jahre, nachdem ich geheiratet hatte und ausgezogen war, kam ein wenig das Gefühl auf, dass meine Eltern vielleicht ein ganz klein wenig schrullig sind. Nach und nach wurde es für mich immer anstrengender, das Heile-Welt-Spiel aufrecht zu halten. Das Korsett wurde brüchig und alte Verletzungen kamen wieder durch. Und die Erkenntnis, dass es in der Tat so ist, dass meine Mutter mich eben nicht liebt, wie eine Mutter das gemeinhin so tut, sondern dass sie in ihrer eigenen Wahrnehmung gefangen ist, die mit meiner Realität nichts zu tun hat, erzeugte einen Druck, dem ich schlicht nicht mehr stand hielt. Die “Trennung” fand statt, weil ich, von Panikattacken gequält, einfach keine Kraft mehr hatte, um Distanz zu wahren. Oder das, was ich für Distanz hielt. Also bat der Waschbär sie in einem Gespräch ohne mich, mich einfach vier Wochen in Ruhe zu lassen. Was dann folgte war eine Szene, die ich ihm zwar prophezeite, er mir vorher aber nicht glaubte. In ihrer Welt bin ich der Mühlstein, den sie vom Tage meiner Geburt an um den Hals hatte. Sie “belegte” das mit vielen Beispielen, von denen einige absolut normales Verhalten war und andere einfach erfunden. Nicht aus Bösartigkeit, sondern weil sie das tatsächlich so wahrnahm.

Es ist im Grunde wieder total faszinierend, dass ich zwar sämtliche Mechanismen und Denkmuster durchschaue, aber mich lange nicht daraus lösen konnte. Selbst am Tiefpunkt wollte ich eigentlich nicht meine Ruhe für mich und meine Psyche, sondern Absolution von ihr und… ja, vielleicht ein Einsehen? Erst jetzt, zwei Jahre danach, kann ich mich endlich frei(er) fühlen. Ich kann mein Leben tatsächlich leben und den Menschen um mich herum authentisch begegnen, ohne Zwang und ohne das Gefühl, ein Lügner zu sein, weil ich heile Welt spiele. Ich absolviere keine Familientermine mehr, sondern treffe mich mit lieben Menschen, die mir gut tun.

Schlimm ist nur, dass die Cousinenkinder mittlerweile tatsächlich die nächste Generation sind. Ich weiß, wie es dazu kam, dass die beiden so drauf sind, wie sie drauf sind. Ich weiß, wie schrecklich sie sich fühlen. Und ich weiß auch, dass man – jedenfalls im Moment, in der Lage – nichts daran ändern kann. Nicht “von außen”.

 Mai 12th, 2012  
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